Kolumne: Du bist ich

 

Wer kennt das nicht? Wir streifen durch die Wohnung und unser Blick fällt auf ein paar getragene Socken, die schon seit zwei Tagen müde darauf warten, aufgehoben und in den Wäschekorb getragen zu werden. Unser Küchentisch ist immer so überfüllt mit Kram, dass wir erstmal eine halbe Stunde aufräumen müssen, bevor wir uns setzen können und immer, wenn wir mit dem Auto fahren wollen, ist der Tank leer. Und es gibt hundert weitere Beispiele dafür, dass wir beginnen, uns über den Anderen zu ärgern. Und ehe wir uns versehen, haben wir zwei Felder aufgemacht: du und ich, du so und ich anders. Du unordentlich, ich ordentlich. Du rücksichtslos, ich rücksichtsvoll. Und irgendwann wird im Alltag ein ‚du gegen mich‘ und ‚ich gegen dich‘ daraus, denn plötzlich liegt der Fokus mehr und mehr auf der Andersartigkeit statt auf den Gemeinsamkeiten.

Dabei geht es doch eigentlich um das wir, darum, dass der Andere nicht unser Gegenspieler, sondern unser Partner ist. Ein liebevoll gedachtes Geschenk an uns – wohlgemerkt mit all seinen Beulen und Dellen, aber auch mit all seinen Farben und Überraschungen. Nur haben wir uns, zugegeben meist unbewusst, dazu entschieden, bloß noch auf die Beulen und Dellen zu achten, auf all das, was uns im Grunde an diesem Geschenk stört und missfällt, weshalb uns leider der liebevolle Blick für seine Einzigartigkeit verloren geht, aufgrund derer wir uns doch verrückterweise einmal so haltlos verliebt haben, oder etwa nicht? Waren wir nicht am Anfang ganz offen für den Anderen und wollten wir nicht jedes auch noch so kleine Bisschen dieser Einzigartigkeit verkosten, es drehen und wenden und von allen Seiten betrachten? Wollten wir nicht ganz und gar mit dem Anderen verschmelzen, eins sein, um uns nicht länger halb fühlen zu müssen? Was also hat sich verändert? Vielleicht nur die Tatsache, dass wir mit einem Mal nicht mehr nur die Beulen und Dellen an der Oberfläche, sondern nach und nach auch die Schwächen, Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten in der Tiefe entdecken, von denen wir nicht wahrhaben wollen, dass sie dazugehören sollen, dass sie tatsächlich ein Teil dieser Einzigartigkeit und damit auch ein Teil unseres Partners sein sollen. Denn ein Geschenk soll doch bitte einfach nur schön sein und gefälligst Freude machen. Andernfalls wollen wir es doch gar nicht haben, wenn wir ehrlich sind. Die Einzigartigkeit eines Menschen umfasst aber immer beides, schwarz und weiß, dunkel und hell, so, wie auch die Fähigkeit, wahrhaft zu lieben. Also geht es am Ende wieder darum, das Annehmen zu lernen? Darum, meinen Partner so anzunehmen wie er ist, mit all seinen Wesensteilen? Ja, ich glaube schon. Und im besten Fall haben wir dafür eine ganze Ehe Zeit, denn diese Annahme sollte wohl zunächst in uns selbst beginnen und wer weiß nicht, wie schwierig das ist? Doch auch hier ist uns unser Gegenüber geschenkt worden, damit wir uns erkennen können, wenn wir wollen. Damit das ‚Ich‘ sich im ‚Du‘ und das ‚Du‘ sich im ‚Ich‘ spiegeln kann. Denn unser Gegenüber ist unser Spiegel und das ist doch das eigentliche Geschenk. Und immer da, wo wir anklagend sagen wollen „Du hast aber…“, oder „Du bist aber…“ können wir ebenso gut sagen „Ich habe aber…“ oder „Ich bin aber…“, denn du bist ich und ich bin du. Ich schaue dich an und sehe mich. Und wo du deine Socken hast liegen lassen, da sind es meine Haarklammern, die in der Wohnung verstreut sind.

Unser Gegenüber, unser Partner ist also nicht der Andere, den es zu besiegen gilt, sondern immer ein Teil von uns, wie auch wir ein Teil von ihm sind, den es zu integrieren gilt. Denn wahre Liebe spaltet nicht in Gegenpole, sondern strebt stets danach, zu verbinden. Eine Einheit zu schaffen. Somit ist unser Partner Teil unseres Spiegelbildes, wie auch wir Teil des seinen sind und um einander ganz und vollkommen zu erkennen, um das Spiegelbild komplett machen zu können, bedarf es immer unser beider. Versuchen wir also, den Mut aufzubringen, einander in Liebe und Mitgefühl „von Angesicht zu Angesicht“ zu schauen und uns ganz so zu zeigen, wie wir sind, in all unserer Verletzlichkeit, aber auch in all unserer Schönheit, denn „dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“

Vanessa Guerra

(Foto: Stefanie Ehl)